Nur einen Flügelschlag entfernt von bioinspiriertem Metamaterial: Absorptionsmechanismen von Mottenflügeln ermöglichen die Konstruktion neuartiger Schallabsorber

Fliegen mit Tarnkappe: Die Motte Antheraea pernyi ist sehr gut darin, Ultraschall zu absorbieren. (Courtesy: University of Bristol)

Prof. Dr. Marc Holderied, Experte für sensorische Ökologie und Verhaltensakustik und für bioinspirierte Technik, und sein Team der Universität Bristol forschen auf den jungen Gebieten der akustischen Tarnung und Biosonar-Navigation. Holderieds Leidenschaft für das "akustische Wettrüsten" bei Wildtieren führte zu neuen Erkenntnissen über die beeindruckenden Schallabsorptionseigenschaften von Mottenflügeln, die er mit Hilfe der Drehtellertechnologie von HEAD acoustics gewinnen konnte.

Fledermäuse und Motten liefern sich ein evolutionäres Wettrüsten. Fledermäuse verwenden Ultraschall-Biosonare, um ihre Beuteinsekten – zum Beispiel Motten – aufzuspüren, die ihrerseits verschiedene Strategien anwenden, um nicht gefressen zu werden. In früheren Forschungsarbeiten entdeckten Prof. Holderied und seine Kollegen, wie taube Motten ultraschallabsorbierende Schuppen auf ihren Körpern entwickelt hatten, die es ihnen ermöglichten, 85 Prozent der Schallenergie zu absorbieren, die Fledermäuse zur Erkennung nutzen.

Ein wesentliches Merkmal eines solchen akustischen Metamaterials besteht darin, dass es viel kleinere Strukturen besitzt als die Wellenlänge des Schalls, der auf sie einwirkt. Daher können sie viel dünner sein als herkömmlich konstruierte poröse Absorber, die Schall über die Dicke des dämpfenden Materials in Wärme umwandeln (Details dazu später). Motten haben eine 1,5 mm tiefe Schutzbarriere auf ihrem Abdomen entwickelt, die wie ein poröser Schallabsorber wirkt. Eine solche Schutzbarriere würde jedoch nicht auf den Flügeln funktionieren, wo sie die Flugfähigkeit der Motten stark beeinträchtigen würde.

Das Team aus Bristol unter der Leitung der Co-Autoren Dr. Thomas Neil und Dr. Zhiyuan Shen konnte zeigen, dass die Motten auf ihren Flügeln einen Resonanzabsorber entwickelt haben, der 100 Mal dünner ist als die Wellenlänge des zu absorbierenden Schalls. Dieser Kniff ermöglicht es den Motten, ausreichend leicht zu bleiben und es gleichzeitig den Fledermäusen schwerer zu machen, ihre Flügelechos im Flug zu entdecken.

Die empirische und mathematische Analyse von Holderied und seinen Kollegen zeigte, dass die Flügel der Motten wichtige Merkmale eines technologisch wünschenswerten akustischen Metamaterials aufweisen. "Wir verstehen jetzt die strukturelle und funktionelle Komplexität bei Schuppenflüglern und zeigen potenzielle neue Wege auf, leistungsstarke akustische Verkleidungen und Geräte zur Lärmminderung zu entwerfen, die diese bioinspirierten Metamaterialeigenschaften nutzen", erklärt Holderied.

 

Mottenflügel wirken als akustisches Metamaterial mit Breitbandabsorption. Das erste bekannte seiner Art in der Natur!

Prof. Dr. Marc Holderied, Universität Bristol

"Wenn Mottenflügel zur Beschichtung harter, künstlicher Oberflächen verwendet werden, können sie die Reflexion des eintreffenden Ultraschalls erheblich verringern. Der genaue Mechanismus dieser Schallabsorption ist zwar noch unklar, jedoch handelt es sich wahrscheinlich um eine Kombination aus der mechanischen Absorption der Schuppen und einer gewissen Dissipation durch thermische und viskose Effekte, die durch das Zusammenspiel von Schuppen, Flügelmembran und Luftbewegung durch die Schuppen hervorgerufen werden. Motten haben eine Möglichkeit entwickelt, viele Resonatoren, die individuell auf verschiedene Fledermausfrequenzen abgestimmt sind, zu einer Reihe von Absorbern zusammenzusetzen, die gemeinsam eine Breitbandabsorption erzeugen, indem sie als akustisches Metamaterial wirken - das erste in der Natur bekannte. Eine solche Breitbandabsorption ist in den ultradünnen Strukturen von Mottenflügeln nur schwer zu erreichen, was sie  besonders bemerkenswert macht."

Abbildung 1: 3D-Darstellung eines 0,21 mm x 0,28 mm großen Flügelabschnitts eines Nachtfalters (Lasiocampa quercus), der Struktur, Vielfalt und Anordnung der Grundschuppen (orange) und Deckschuppen (blau und gelb) zeigt. Bildnachweis: Simon Reichel, Thomas Neil Zhiyuan Shen & Marc Holderied

Herkömmliche schalldämmende Materialien sind in der Regel porös. Um wirksam zu sein, müssen sie dicker sein als etwa 10 % der Wellenlänge des Schalls, den sie blockieren. Metamaterialien, die aus speziell entwickelten Strukturen bestehen, können dünner sein als 1 % der Wellenlänge, die sie absorbieren, funktionieren aber in der Regel nur in einem sehr schmalen Frequenzband. Es wurden zwar schon Breitband-Metamaterialien entwickelt, doch sind diese noch deutlich dicker. Die Schuppen der Mottenflügel besitzen unterschiedliche Größen, jede mit einer charakteristischen Resonanzfrequenz. Daher absorbieren sie den Schall in einem breiten Frequenzbereich und funktionieren somit effektiver als herkömmliche schallabsorbierende Materialien.

Frühere Studien haben bisher nur gezeigt, wie Mottenflügel Schallwellen absorbieren, wenn die Insekten durch die Luft fliegen – in seiner neuen Forschung untersuchte Holderieds Team, wie die Flügel Schall absorbieren, wenn sie an einer Aluminiumscheibe befestigt sind. Eine solche schallharte Oberfläche reflektiert normalerweise den größten Teil des eintreffenden Schalls. Im Gegensatz dazu beobachteten die Forscher, dass die Mottenflügel-Beschichtung die Reflexion selbst bei den niedrigsten getesteten Frequenzen – Ultraschall mit einer 50 Mal längeren Wellenlänge als die Dicke der Flügel – um bis zu 87 % reduzieren kann.

Das Team untersuchte dann genauer, wie die Flügel den Schall absorbieren. Sie entfernten die Schuppen von der Flügeloberseite und stellten fest, dass die Absorption je nach Ausrichtung des eintreffenden Schalls variiert. Während die Absorption hoch bleibt, wenn die kahle Seite dem einfallenden Schall zugewandt ist, bricht sie in der entgegengesetzten Richtung fast vollständig zusammen. Indem das Team dieses Szenario in Simulationen nachstellte, zeigte es, dass die Absorptionsfähigkeit des Metamaterials stark vom Vorhandensein von Schuppen im Luftspalt zwischen der Flügelmembran und der harten Oberfläche darunter abhängt.

Die von den Mottenflügeln absorbierten Schallwellen liegen weitgehend außerhalb des menschlichen Hörbereichs. Durch die Anpassung des Designs zur Absorption niedrigerer Frequenzen hoffen Holderied und seine Kollegen jedoch, dass bald neue künstliche Metamaterialien nach dem Vorbild ihrer Struktur entwickelt werden könnten. Diese Strukturen könnten zu einem Durchbruch bei der Hochleistungsschalldämmung führen: möglicherweise zu Beschichtungen für Wände, Fahrzeuge und lärmende Maschinen, die nur einen Bruchteil des Platzes einnehmen, den die bisherigen Materialien benötigen.

Abbildung 2: Schallabsorptionsforschung mit dem Hochpräzisions-Drehtisch HRT I von HEAD acoustics

 

Normalerweise wird der HEAD acoustics Hochpräzisions-Drehtisch HRT I in automatisierten orientierungsabhängigen akustischen Tests eingesetzt, bei denen er sich dreht, zum Beispiel mit Telefongeräten, Smart Home-Geräten, (Video-) Konferenzsystemen, Lautsprechern, Mikrofonen oder einem Kunstkopf. Für das Experiment des Teams um Holderied wurde jedoch eine Motte an der Drehscheibe befestigt (siehe Abbildung 2), um sie in bestimmten Winkeln im Messfeld zu positionieren und unter Laborbedingungen Schallwellen auszusetzen. Die Dreheinheit bietet einen Drehbereich von 360°, der in 0,1°-Schritten angefahren werden kann. Die eingestellten Winkel können mit einer Genauigkeit von 0,02° reproduziert werden.

Neben der Steuerung über die Mess- und Analysesoftware ACQUA oder das Softwaretool RC HRT I können Anwender den Drehtisch auch eigenständig mit Programmiersprachen wie MATLAB oder Python ansteuern, wodurch sich der HRT I noch flexibler in Versuchsaufbauten integrieren lässt.

"Wir freuen uns, dass wir für unsere Mottenversuchsreihe zwei HRT I-Drehscheiben von HEAD acoustics einsetzen können, eine auf einem Tisch, die andere an der Wand montiert. Der HRT I Drehtisch arbeitet präzise, robust und leise – auch im Stillstand – und war deshalb die erste Wahl für die Universität Bristol", erklärt Prof. Holderied.

"Ich hoffe, dass das neue Verständnis der Absorptionsmechanismen von Mottenflügelschuppen die nächste Generation von akustischen Metamaterial-Schallabsorbern inspirieren wird. Wir versprechen uns davon viel dünnere Schallabsorber für Wohnungen und Büros. Unsere neue Forschung ebnet den Weg für vielseitigere und akzeptable Schallabsorber-Tapeten anstelle von sperrigen Platten."

Herzlichen Dank, Herr Prof. Holderied. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre weitere Forschungsarbeit.

Quellen:

Thomas R. Neil, Zhiyuan Shen, Daniel Robert, Bruce W. Drinkwater, and Marc W. Holderied: Moth wings as sound absorber metasurface. The Royal Society Publishing PNAS. University of Bristol. 2022.
https://doi.org/10.1098/rspa.2022.0046


Wallpaper made of moth wings is an excellent absorber of sound. Physics World. 2022.
Wallpaper made of moth wings is an excellent absorber of sound – Physics World


Universät Bristol, Pressemitteilung vom 23.11.2020
https://www.bristol.ac.uk/news/2020/october/moths-acoustic-camouflage.html