Stress-Vorhersage – Lärmwirkung physiologisch messen und voraussagen

Gekürzte Version der Veröffentlichung in der Lärmbekämpfung (Laufs, C., Herweg, A.: „Beurteilung von Lärmwirkungen anhand physiologischer Messungen“, erschienen in: Zeitschrift für Lärmbekämpfung 18 /2022 Nr. 1 S. 11-16; VDI Fachmedien, Düsseldorf. ) https://www.ingenieur.de/fachmedien/laermbekaempfung/

Die „Fight-or-Flight Reaktion“ hilft Menschen seit Urzeiten, Gefahrensituationen entweder durch Gegenwehr oder Flucht zu bewältigen. Sie unterstützt den Körper dabei, sich solchen Situationen anzupassen – zum Beispiel durch eine erhöhte Herzfrequenz, die ihn auf körperliche Anstrengung vorbereitet. In Konfrontationen mit wilden Tieren oder Naturgewalten waren es solche körperlichen Reaktion, die für das Überleben gesorgt haben. Heute stellen diese Faktoren für die Mehrheit der Menschen keine Gefahr mehr dar. Dennoch bewertet unser Gehirn fortlaufend unsere Sinneswahrnehmungen auf Indikatoren für potenzielle Gefahren. Insbesondere Geräusche können unseren Körper in Alarmbereitschaft versetzen, und statt wilder Tiere sind Geräusche und Lärm in der modernen Gesellschaft – neben Faktoren wie Zeitdruck oder klimatischen Bedingungen – primäre Stressauslöser.

Im Folgenden geben wir einen Überblick, wie HEAD acoustics physiologische Messungen in Hörversuchen zur Beurteilung von Lärmeffekten nutzt. Dabei beschreiben wir das Potential von physiologischen Messungen in der Untersuchung von Lärmwirkungen und wie diese zur Vorhersage von Stresseffekten nutzbar sein können.

Extra-aurale Lärmwirkungen

Geräusche können dem Menschen schaden und stellen eine potenzielle gesundheitliche Gefahr dar. Dabei geht es nicht nur um zu hohe Schalldruckpegel. Die dadurch hervorgerufenen direkten Schäden am Gehörsystem bezeichnet man als aurale Lärmwirkungen [1]. Lärmwirkung ist jedoch viel komplexer und geht weit über die auralen Auswirkungen hinaus. Lärmwirkungen, die andere Stellen des Körpers betreffen, nennen wir extra-aurale Lärmwirkungen. Darunter fallen physiologischer oder auch psychischer Stress, aber auch eine Schwächung der kognitiven Leistung – also Wirkungen, die erst im Gehirn durch die Weiterverarbeitung der Schallereignisse entstehen. Solche extra-auralen Reaktionen auf Lärm können schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben [2]. Wie läuft so eine Stressreaktion eigentlich genau ab?

Physiologie einer Stressreaktion

Der Körper nimmt bestimmte Schallereignisse als Indikatoren für potenzielle Gefahren wahr und versetzt sich vorsorglich in Alarmbereitschaft, indem er das sympathische Nervensystem aktiviert. Dieses bildet zusammen mit dem parasympathischen Nervensystem das autonome Nervensystem, dessen Funktionen weitestgehend unbewusst ablaufen. Das parasympathische Nervensystem wirkt im Gegensatz zum sympathischen Nervensystem eher beruhigend oder dämpfend auf den Organismus. Wird durch einen Stressauslöser das sympathische Nervensystem aktiv, schüttet der Körper Adrenalin aus. Dieses wiederum führt unter anderem zu einer erhöhten Herz- und/oder Atemfrequenz. Muskeltonus und Blutdruck erhöhen sich und die Verdauung fährt herunter, um die Energie des Körpers für die wichtigen Funktionen eines Kampfs oder einer Flucht bereitzustellen. Geweitete Pupillen tragen zu einer besseren Sicht bei. Kommt es häufig zu einer solchen Alarmbereitschaft, kann dies zu langfristigen gesundheitlichen Schäden führen. Ein häufig erhöhter Blutdruck oder erhöhte Herzfrequenz können so unter anderem zu Schäden des Herzkreislaufsystems führen [3]. Steht der Körper unter anhaltendem Einfluss eines Stressors, so geht er sogar in einen sogenannten Zustand des Kontrollverlusts über. Wenn weder Kampf noch Flucht möglich oder wirksam sind, stellt sich der Körper auf ein Ertragen des Stressors ein und setzt nach dessen längerer Einwirkung auch Cortisol frei. Dieses Stresshormon führt daraufhin zum Beispiel zu einer Abschwächung der Schmerzreaktion. Häufige Freisetzung von Cortisol kann jedoch das Immunsystem langfristig schwächen. Auch bei der Stressreaktion gilt also: Die Dosis macht das Gift.

Abb. 1: Übersicht über die körperlichen Veränderungen bei einer Stressreaktion

Das Gute ist: Diese Stressreaktionen lässt sich mit Sensoren detektieren. Die erfassten Daten ermöglichen es den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen bei HEAD acoustics, extra-aurale Lärmwirkungen bestimmten Schallereignissen zuzuordnen und bei der Untersuchung von Lärmwirkungen über die reine Befragungen von Probanden hinauszugehen. Und das ist wichtig, denn Menschen nehmen Stress nicht immer bewusst wahr, selbst wenn messbare Stressreaktionen im Körper stattfinden [4].

 
Die physiologischen Parameter

Zu den meistverwendeten physiologischen Parametern, die gängige Messungen erfassen, gehören die Herzfrequenz, die Herzratenvariabilität (HRV) und die Hautleitfähigkeit. Auch die Atemfrequenz, die Fingerpulsamplitude oder die Gehirnaktivität lassen sich erfassen.

Im Zusammenhang mit der Akustik kamen physiologische Messungen schon 1962 zum Einsatz. In einer der ersten Untersuchungen von Geräuschen mit physiologischen Messungen konnte damals bereits ein Zusammenhang zwischen der Bandbreite eines Geräuschs und der Fingerpulsamplitude festgestellt werden [5]. Physiologische Messungen in der Akustik machen jedoch eine Vielzahl von Vorüberlegungen nötig, damit man sie erfolgreich anwenden kann. Klassische Hörversuche, bei denen die am Versuch teilnehmenden Personen eine große Anzahl an Geräuschen schnell hintereinander bewerten, spielen dabei keine Rolle mehr. Stattdessen hören die Versuchspersonen Geräusche über eine bestimmte Dauer, wobei sie zwischen den Stimuli Pausen machen dürfen und müssen. Denn Stressreaktionen haben häufig nicht nur eine kurzzeitige Veränderung bestimmter physiologischer Parameter zur Folge, sondern es benötigt Zeit, bis diese Parameter wieder einen Ruhewert erreichen.

Artefakte

Ein weiteres Problem sind Artefakte, also Störungen im Signal. Sie entstehen hauptsächlich durch Bewegungen der Proband:innen und erschweren eine valide Auswertung der körperlichen Reaktion. Die Messungen der Herzrate mittels EKG oder der Atemfrequenz mittels Brustgurt sind weniger anfällig für Bewegungsartefakte als die Messung der Hautleitfähigkeit.

Bei der Messung der Hautleitfähigkeit hingegen verändern Bewegungen den Kontakt der Elektroden und somit auch die gemessene Leitfähigkeit. Studien, bei denen die Testperson zum Beispiel die Hand mit den Elektroden bewegen muss – unter anderem Untersuchungen in Fahrzeugen – stellen also eine besondere Herausforderung dar. Für eine bessere Datenqualität können hier Hautleitfähigkeitsmessungen an der Fußsohle oder kombinierte Messungen mit Elektroden an der Hand und am Fuß sorgen. Auch tiefe Atemzüge und sogar Sprechen können zu einer erhöhten Schweißproduktion und somit anderer Hautleitfähigkeit führen, sodass Anstiege im Signal entstehen, die stressbedingten Anstiegen der Hautleitfähigkeit sehr ähneln. Hörversuche sollten also ohne sprachliches Feedback während der Messung auskommen und stattdessen Antworten über die Maus und Tastatur abfragen. Eine zusätzliche Aufzeichnung der Atmung kann auf solche Anstiege schließen lassen, die nur durch einen sehr tiefen Atemzug verursacht wurden.

Zusätzliche Möglichkeiten zur Artefaktkorrektur über entsprechende Algorithmen gibt es bei allen Messarten.

Abb. 2: Artefakte im EDA Signal

Stressreaktion und Psychoakustik

Studien mit physiologischen Messungen sind mit erheblichem Aufwand verbunden, auch wenn bereits ein Set aus psychoakustischen Parametern existiert, das die Empfindung der Hörer von Geräuschen wiedergibt. Diese Parameter leisten einen wertvollen Beitrag zur qualitativen Beschreibung von Lärmwirkungen. Zum Beispiel deutet die DIN ISO 12913 Soundscape Norm [6] an, dass es nicht genügt, einfache nur unerwünschte Geräusche leiser zu machen. Stattdessen nutzen wir psychoakustische Erkenntnisse dazu, die akustische Gesamtsituation umfänglicher und damit besser zu bewerten. So konnten zum Beispiel Befragungen von Testpersonen Zusammenhänge zum Beispiel zwischen der Schärfe und der Lästigkeit eines Geräusches aufdecken.

Unsere Forschung untersucht nicht die physiologische Reaktion auf bestimmte Geräusche, sondern auf die psychoakustischen Eigenschaften von Geräuschen, um die Zusammenhänge zu ermitteln. Aussagekräftige Ergebnisse würden es uns ermöglichen, einen Teil der Stresswirkung eines Geräuschs über die Psychoakustik vorherzusagen, ohne dass jedes Mal aufwändige physiologische Messungen erforderlich sind.

Zusammenhang zwischen Schärfe und Stressreaktion

Zunächst untersuchten wir den Zusammenhang zwischen der Schärfe eines Geräuschs, also den hochfrequenten Anteile an der Gesamtlautheit, und der Stressreaktion. Da eine höhere Schärfe häufig mit einer höheren bewerteten Lästigkeit einhergeht, könnte man damit einhergehend eine stärkere Stressreaktion erwarten. Deshalb verwendeten wir Rauschen unterschiedlicher Schärfe als Stimuli – alle anderen Parameter des Geräusches veränderten sich dabei nicht. Ein in den Versuchsablauf integrierter kognitiver Test verhindert dabei lange Phasen der Inaktivität, die valide Rückschlüsse erschweren können. In diesem Test mussten alle Probanden dieselbe kontrollierte, kognitive Tätigkeit ausführen, die ein typisches Arbeitsumfeld realistischer darstellt als Inaktivität. Ein solcher kognitiver Test bietet zusätzlich die Möglichkeit, die Beeinflussung der kognitiven Leistung durch Lärm zu untersuchen – eine weitere extra-aurale Lärmwirkung.

Zur Beurteilung der Stressreaktion erfassten und analysierten wir die Hautleitfähigkeit der Probanden. Die Beobachtung der Atmung und der Einsatz von Algorithmen zur Korrektur von Artefakten vor der Analyse erhöhen die Signalqualität.

Abb. 3: Signal in Ruhe und Testphase

Die Analyse der Daten zeigte die erwartete stärkere Stressreaktion bei dem Geräusch mit höherer Schärfe. Sie war statistisch signifikant höher als die Reaktion auf das Geräusch niedriger Schärfe und aktivierte das sympathische Nervensystem dementsprechend stärker. Wir können daher annehmen, dass Lärm höherer Schärfe ein größeres Potential besitzt, negative gesundheitliche Effekte hervorzurufen.

Anders sehen die Ergebnisse der Auswertung der kognitiven Leistung aus. Hier erzielten die Probanden, anders als zuvor angenommen, signifikant bessere Ergebnisse bei dem Geräusch mit höherer Schärfe. Dem Kapazitäts-Ressourcen-Ansatz [7] zufolge erschöpft Stress Aufmerksamkeitsressourcen, was zu einer verringerten Nutzung der für eine Aufgabe irrelevanten Prozesse im Gehirn führt. Der menschliche Körper geht in die Fight-or-Flight Reaktion über und benötigt Gehirnressourcen, um den Stressor zu bewerten und ihn zu kontrollieren. Bezogen auf dieses Studienexperiment führt eine erhöhte Stressreaktion aufgrund der höheren Schärfe des Lärms möglicherweise jedoch zu einer höheren Konzentration auf die Bearbeitung der arithmetischen Aufgaben. Mit Blick auf die kognitive Leistung können wir hier also von positivem Stress (Eustress) sprechen. Dennoch liegt eine stärkere Aktivierung des sympathischen Nervensystems vor, die langfristig gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann.

 

Zukünftige Untersuchungen

Neben der Hautleitfähigkeit untersuchen wir in ersten Vorstudien bei HEAD acoustics nun auch die Herzratenvariabilität und die Gehirnaktivität. Sie sollen in Zukunft eine noch umfassendere Bewertung der physiologischen Reaktion auf Geräusche ermöglichen. Mit einem neuen Versuchsdesign zur Untersuchung von Störschall untersuchen wir so den Zusammenhang zwischen weiteren psychoakustischen Parametern und einer Stressreaktion.

Weitere Verbesserungen in der Vermeidung und Beseitigung von Artefakten ließen bereits erste Analysen der physiologischen Reaktion in aktiveren Szenarien zu, wie zum Beispiel die Reaktionen des Fahrers beim Fahren eines Fahrzeugs. So können wir die die physiologischen Reaktionen in den Zusammenhang mit bestimmten Fahrsituationen bringen oder verschiedene Fahrzeuge miteinander vergleichen.

Fig. 4: Sensoren im Auto

Zusammenfassung und Fazit

Das Potential der physiologischen Messungen in der Beurteilung von Lärmwirkungen ist groß, doch benötigt es noch weitergehende Forschungen, um dieses Potential auszuschöpfen. Mit störfreien Signalen und einer validen Messmethodik, die wiederum belastbare Aussagen über die körperliche Situation zulässt, haben wir bereits einen großen Schritt getan. Zusammen mit einem für die Untersuchung von Störschall optimierten Hörversuchsdesign und der geeigneten Analyse mehrerer gleichzeitig erfasster physiologischer Parameter, ist dieses Potential nutzbar. So könnten wir in Zukunft direkt vorhersagen, ob ein Geräusch eine Stressreaktion hervorrufen könnte und diese im Idealfall vermeiden.

 

[1] E. Daniel, „Noise and hearing loss: a review,“ Journal of School Health 77.5, p. 225–231, 2007.

[2] H. Faller und H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie, 2006.

[3] H. Faller und H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie, 2006.

[4] M. Spreng, „Central nervous system activation by noise,“ Noise and health, p. 49, 2000.

[5] G. Jansen und P. Y. Rey, „Der Einfluß der Bandbreite eines Geräusches auf die Stärke vegetativer Reaktionen,“ Internationale Zeitschrift für angewandte Physiologie einschließlich Arbeitsphysiologie, pp. 209-217, 1962.

[6] „DIN ISO/TS 12913-3:2021-06; Akustik - Soundscape - Teil 3: Datenanalyse (ISO/TS 12913-3:2019)“.

[7] E. Chajut und D. Algom, „Selective attention improves under stress: implications for theories of social cognition.,“ Journal of personality and social psychology, p. 231, 2003.

 

Der zugrundeliegende Langartikel findet sich im Magazin "Lärmbekämpfung": doi.org/10.37544/1863-4672-2022-01-13